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NT-Psychologie

Ein Phänomen erschüttert die PC-Welt: Es gibt ein Betriebssystem
von Microsoft, das von den Benutzern nicht wie sonst üblich gehasst wird. Selbst hartgesottene Hacker versichern in Newsforen und an nicht-virtuellen Stammtischen, Windows NT 4.0 sei stabil. Was ist da passiert? Wo
bleibt das FeindBilld? Wir enthüllen hier erstmals, wie NT zu
seinen Lorbeeren in der sonst blind aggressiven Systemprogrammierer-
Szene kam. So viel vorab: Es handelt sich um ein Husarenstück
der psychologischen Abteilung im Hause Microsoft.

Die Boot-Show

Windows NT reagiert nach dem Einschalten so wie weiland Apples Macintosh-Urahn Lisa: nicht langsam, sondern majestätisch. Erhaben wechseln sich schwarze und blaue Bildschirme ab, ein Loader-Butler übergibt an den anderen, unsichtbare Lakaien zeichnen geduldig Punkte auf die Fläche. Mehrere bange Minuten vergehen beim Start in jene Regionen des Hauptspeichers, in denen noch kein Mensch zuvor war. Besser kann man Komplexität und Power nicht zeigen: Dem harmlosen User wird klargemacht, dass er softwaremäßig
keine einprozessorige Cessna mehr vor sich hat, sondern Raumschiff eNTerprise. NT wird nicht eingeschaltet oder gebootet, sondern mainframemäßig »hochgefahren«.

Dann das erlösende Bild: NTs Start-Logo. Es ist nicht mehr bildschirmfüllend oder gar animiert wie bei den lächerlichen Breitwand-Vorspanns der Micky-Maus-Betriebssysteme. Ein dezenter Rahmen weist den Weg ins Neue Universum. Merkwürdig nur die Flecken auf dem bunten Fenster-Background.
»Was Bedeutung von das?« würde Inspektor Wang hier fragen. Erste Aussetzer im Video-Subsystem? Vorlage schlecht gescannt? Nach längerer Bildbetrachtung wird klar: Das sollen Sterne sein. Willkommen in der Umlaufbahn, Humanoid!

Der Anmelde-Gag

Dann passiert das Unfassbare: Kaum ist der Anwender oben, soll er schon wieder die Reißleine ziehen. »Drücken Sie Strg-Alt-Entf«, fordert knallhart eine Message-Box. Von Anfang an thematisiert NT diesen dramatischen Refrain: Mit mir kannst du machen, was du willst – ich stürze nicht ab. Und tatsächlich: Wer mit feuchten Fingern die vertraute finale Geierkralle eingibt, wird nicht mit total breakdown und dem blöden gelben EPA-Pollution-Preventer-Logo seines Monitors bestraft, sondern steht – wie es sich für das Betreten eines Großunternehmens gehört – vor einem Anmeldeformular. Was nun folgt,
ist Microsofts größte psychologische Meisterleistung seit Erfindung des DOS-Prompts: Nur wer hier das magische Wort »Administrator« eingibt, kann später mit NT das machen, was er mit Windows 95/98 machen konnte. Ein Administrator ist kein gewöhnlicher User mehr, ja wahrscheinlich überhaupt
kein gewöhnlicher Mensch. Welcome auf der Brücke, Kapitän. Wer sich als Administrator angemeldet hat, wird niemals später bei der Hotline blöde Fragen stellen.

Die Oberflächenspannung

Bunte Phantasien tanzen vor des frischgebackenen Administrators Augen: Wie wird der Kommandostand aussehen? Hat Leutnant Uhura einen neuen Overall? Gibt es Gedankenscanner, 3D-Mäuse, Gehirne mit USB-Buchse? Es öffnen sich die Türen, und die Überraschung ist perfekt: Alles sieht so aus wie im letzten
Benutzeroberflächenjahrhundert. Desktop, Bildchen, Start-knopp, Sockelleiste, Mülleimer. Der gleiche Hoppla-Effekt wie in Captain Picards Raumschiffzentrale, in der man sich Zahlenreihen zuruft wie die deutschen U-Boot-Männer im 2. Weltkrieg und grüne Textmeldungen mit knapp 500 Baud auf den Bildschirm tuckern. Ein gemeiner Kniff, diese gezwungene Harmlosigkeit, mit der sich NT so präsentiert, als sei es ein Klon der Win-9X-Spielzeugabteilung. Das Gegenteil ist der Fall: NT steht für »No Toy«. Bei Fehlern wird es richtig ernst.

Kaiser-Bills-Neue-Kleider-Effekt

Simple Abstürze gibt es nicht mehr. Dazu sagen wir jetzt: »Der blaue Bildschirm«. Er beginnt mit der poetischen Zeile *** STOP: 0x00000007 UNEXPECTED_KERNEL_MODE_TRAP CPUID: Genuine Intel 6.3.4 irql:1f SYSVER 0x00065 oder so ähnlich. Bills Psychologen suggerieren mit solcher Absturz-Prosa, dass die Katastrophe zwar passiert, für Fachleute aber erklärbar ist. Dazu steht am unteren Rand des atlantik-blauen don’t-panic-Freskos ein Kleinod microsofter Dichtkunst: Starten Sie erneut und verwenden Sie die Wiederherstellungsoptionen oder setzen Sie die Startoption /CRASHDEBUG. Nur der Laie erwartet, dass in NTs Hilfedatei steht, worum es sich bei Wiederherstellungsoptionen handelt oder wie man Startparameter setzt. Der Fachmann weiß, dass beide Begriffe dort nicht vorkommen. Womit dem Hilfsuser klar sein müsste, dass er auf dem falschen Dampfer ist: Wer CRASHDEBUG nicht
kennt, darf auf NT einfach nicht anheuern! Wer’s noch nicht gerafft hat, kriegt es in der letzten Zeile von NTs Abschiedsbrief endgültig hingerieben: Wenn diese Meldung noch Mal erscheint, wenden Sie sich an Ihren Administrator. So stehe ich ratlos vor mir. Zugleich aber stolz, ein Administrator zu sein.


WERNER TIKI KÜSTENMACHER ist seit zwei Monaten Administrator eines Windows-NT-4.0-Systems und freut sich über Erfahrungsberichte von Leidensgenossen. Auch wer nicht gerade an seiner Habilitation im Fach Informatik schreibt, ist willkommen bei tiki@compuserve.com.

PC PROFESSIONELL, AUGUST 1998, S. 269